Auch die deutsche Bundeswehr gehörte zu den NATO-Truppen, die im Herbst 2001 zum Einsatz am Hindukusch ausrückten – zu einem Kriegseinsatz, der 20 Jahre dauern sollte und bis heute heftig umstritten ist. In dieser Story erfährst du, wie der Einsatz der deutschen Soldatinnen und Soldaten im Afghanistankonflikt die Meinungen der Bundesbürger spaltete – und welche Bilanz heute gezogen werden muss...
So schnell ihn seine Beine tragen, rennt der Junge auf das Flughafengelände zu. Er will nur noch eines: irgendeine deutsche Bundeswehrmaschine erreichen, die ihn rausbringt aus Kabul, weg von den Taliban, raus aus Afghanistan. Weder der Stacheldraht noch die Warnschüsse der amerikanischen Wachsoldaten können ihn von seinem Fluchtplan abhalten. Dann endlich hat er das Rollfeld erreicht. Dort wimmelt es bereits von Hunderten angsterfüllten Menschen. Wie er wollen sie nur noch weg, sie alle rennen auf das startbereite Flugzeug zu. Aber der Junge ist schnell, die pure Todesangst scheint seine schmächtigen Beine anzutreiben. Doch der deutsche Flieger hat die Gangway geschlossen und beginnt bereits zu rollen! Nur noch eine einzige Hoffnung bleibt dem Jungen: Mit dem Mut der Verzweiflung läuft er neben dem rollenden Flugzeug her – und klammert sich schließlich mit beiden Händen am Fahrwerk der Maschine fest. Das Flugzeug hebt ab. Der Junge schließt die Augen – und klammert sich aus purer Angst vor einer unsicheren Zukunft an den sicheren Tod...
Die erste App, die dich wirklich schlauer macht.
Jetzt runterladen!20 Jahre lang tobte der Krieg in Afghanistan – 20 Jahre Terror, Leid und Tod in einem Land, das noch immer nicht zur Ruhe kommt. Im Spätsommer 2021 kam es auf dem Flughafengelände Kabuls zu einer menschlichen Katastrophe ungeahnten Ausmaßes. Eine Katastrophe, deren Vorzeichen in Berlin offenbar bis zum Schluss fatal unterschätzt wurden. Doch welche Rolle spielten die Deutschen überhaupt in diesem erbarmungslosen Dauerkonflikt?
Aus militärischer Sicht war im Frühherbst 2001 für Deutschland der Bündnisfall eingetreten, denn die Terroranschläge vom 11. September waren ein Angriff auf den NATO-Partner USA gewesen. So beschloss auch der Deutsche Bundestag, im Rahmen der Aktion Enduring Freedom Truppen nach Afghanistan zu schicken, um die USA bei der Zerschlagung des Taliban-Regimes zu unterstützen. Ein Beschluss übrigens, der bereits damals heftig umstritten war und in der rot-grünen Mehrheit erst zustande kam, nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die Vertrauensfrage gestellt hatte.
Deutschlands Aufgabe in der International Security Assistance Force (ISAF) war vor allem der Aufbau des afghanischen Polizeiapparats und die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte. Dazu wurde am Fuß des Hindukusch nahe der Stadt Masar-i-Scharif im Norden Afghanistans das Camp Marmal eingerichtet – das größte Feldlager für Soldaten der Bundeswehr außerhalb Deutschlands. Doch im Herbst 2009 rollte eine Welle der Empörung durch Deutschland – als die Bundesbürger über die Medien erfahren mussten, dass ein Oberst der Bundeswehr einen Luftangriff auf Zivilisten befohlen hatte – wissentlich und unter Verletzung der Einsatzregeln, wie ein Untersuchungsausschuss klarstellte. Die Kritik an diesem Auslandseinsatz der Bundeswehr wurde immer lauter; der damalige Verteidigungsminister Franz-Joseph Jung (CDU) musste zurücktreten. Es war sein Nachfolger Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), der zum ersten Mal öffentlich eingestand, dass sich die deutschen Soldaten am Kundus keineswegs nur in einem friedlichen Wiederaufbauprogramm befanden, sondern in einem offenen Krieg, der täglich neue Todesopfer forderte – auch unter den Bundeswehrsoldaten selbst.
Die Sicherheitslage vor allem in den Operationsgebieten der Taliban im Süden wurde immer angespannter. Vor der tiefgläubigen Landbevölkerung inszenierten sich die Glaubenskrieger als Freiheitskämpfer und Ordnungsmacht – und eroberten ein Dorf nach dem anderen. Dennoch beschloss die NATO, die ISAF-Mission ab 2015 zu beenden und die Truppen bis auf Restkontingente abzubauen. Diese sollten die afghanische Regierung in einem befristeten Nachfolgeprojekt dabei unterstützen, nun selbst für Sicherheit im Land zu sorgen. Die Zahl der Taliban-Anschläge auf Regierungstruppen und Zivilbevölkerung nahm unterdessen weiter zu. Erst 2019 erklärten sich die Taliban zu Friedensgesprächen mit der afghanischen Regierung bereit. Im Gegenzug versprachen die USA, ihre verbliebenen Truppen endgültig abzuziehen – und auch Deutschland sollte ihrem Beispiel folgen. Der Abzug der Bundeswehr war beschlossene Sache. Beobachter vor Ort zweifelten jedoch am Friedenswillen der Taliban und sahen eine neue Schreckensherrschaft heraufziehen – einen islamistischen Gottesstaat. Und viele Deutsche konnten nicht verstehen, weshalb der Bund mehr als 12 Milliarden Euro in diesen Krieg investiert hatte, nur um das Land nach 20 Jahren doch den Taliban zu überlassen.
Kaum ein Jahr später sollten sich alle Befürchtungen bestätigen. Der Abzug der internationalen Truppen war noch nicht ganz abgeschlossen, als die Taliban bereits in die großen Städte des Landes einzogen. Schon seit Wochen hatten sie systematisch die strategisch wichtigen Straßen in den Norden Afghanistans besetzt und damit die Regierungstruppen vom Nachschub abgeschnitten. Die standen nun vor der Wahl, zu verdursten und zu verhungern – oder nach Hause zu gehen, solange sie es noch konnten. Am Ende flüchtete auch der amtierende Präsident Aschraf Ghani aus Kabul ins Ausland. Und Deutschland sah sich abrupt aus dem Traum einer vermeintlich erfolgreichen Friedensmission gerissen und mit einer höchst akuten Frage konfrontiert: Was sollte nun mit den zivilen afghanischen Ortskräften geschehen, die die Bundeswehr als Dolmetscher, Techniker und in vielen weiteren Funktionen unterstützt hatten?
Nach der unerwartet raschen Machtübernahme der Taliban brach unter den verbliebenen Deutschen Panik aus: Die Diplomaten verließen ihre Botschaft und quartierten sich auf dem Kabuler Flughafen ein – dem letzten noch halbwegs sicheren Ort des Landes. Nur rund 2400 einheimische sogenannte Vertragskräfte, die die Bundeswehr vor Ort unterstützt hatten, sollten nach Deutschland einreisen dürfen. Aber zehntausende weitere verzweifelte Menschen drängten zum Flughafen und wollten ausgeflogen werden. Viele hatten in zivilen Hilfsprojekten mitgearbeitet und mussten nun ebenfalls um ihr Leben fürchten. Einige waren derart verzweifelt, dass sie sich während der hastigen Evakuierung sogar noch an abhebende Flugzeuge klammerten – nur um wenige Augenblicke später in den Tod zu stürzen. Und die Bundesregierung? Die musste ihre politischen Fehler letztlich eingestehen. Man habe die Sachlage vollkommen falsch eingeschätzt, hieß es aus Berlin. Und diese Fehleinschätzung betraf offenbar nicht nur die Geschwindigkeit des Zusammenbruchs ...
Kritiker ziehen eine erschreckende Bilanz über die 20 Jahre Militäreinsatz in Afghanistan. Der Versuch des Westens, diesen Vielvölkerstaat mit seinen verfeindeten religiösen Gruppierungen und korrupten Regierungskreisen in eine funktionierende Demokratie zu verwandeln, sei von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, sagen sie. Die Aufbauhilfe habe sich zu sehr auf die Hauptstadt Kabul konzentriert, wo sie tatsächlich Erfolge verzeichnen konnte. Aber die Landbevölkerung sei nicht mitgenommen und der Einfluss der Taliban auf sie unterschätzt worden. Während der Westen Milliarden in eine Staatsarmee investierte, die sich im August 2021 praktisch in Luft auflöste, hätten die Taliban ungestört Polizei und Justiz unterwandert – oft mit Geld aus dem Drogenhandel, den eben diese Behörden doch eigentlich unterbinden sollten. Und niemand in der Bundespolitik habe sich ernsthaft mit der Frage beschäftigt, wie es mit all den Entwicklungsprojekten in Polizei und Justiz, Lehrerbildung, Gesundheitsversorgung und Existenzgründungen nach dem Truppenabzug weitergehen würde. Am Ende bleibt die große Frage: Hat sich wenigstens der Anti-Terror-Einsatz gelohnt? „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands” soll nun eine Enquete-Kommission ziehen, die der Bundestag auf Antrag von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP im Sommer 2022 ins Leben rief.
Zusammenfassung
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 beschloss der Deutsche Bundestag die deutsche Beteiligung an der NATO-Mission ISAF. Bundeskanzler Gerhard Schröder setzte sich in der rot-grünen Koalition für die Entsendung der Bundeswehr nach Afghanistan ein.
Sie sollte die Sicherheit der dortigen Bevölkerung gewährleisten. Erst acht Jahre später räumte Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ein, dass es sich auch um einen Kriegseinsatz handelte.
Nach fast 20 Jahren Kampf und Terror erklärten sich die Taliban zu ersten Friedensverhandlungen bereit. Im Gegenzug begannen Amerikaner und Deutsche damit, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen.
2015 endete der ISAF-Einsatz in Afghanistan. Er wurde von der ebenfalls NATO-geführten „Resolute Support Mission“ abgelöst, die bis Ende April 2021 befristet war. Nach dem Abzug der Westmächte brachten die Taliban in kürzester Zeit sämtliche wichtigen Städte des Landes unter ihre Kontrolle. Im August 2021 stürmten Zehntausende Afghanen den Flughafen von Kabul, um der Taliban-Herrschaft zu entfliehen.
Nach diesen dramatischen Ereignissen räumte die Bundesregierung ein, die Lage in Afghanistan falsch eingeschätzt zu haben. Kritiker stellen den Sinn des 20-jährigen Afghanistan-Einsatzes der deutschen Soldaten infrage.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. B) Aschraf Ghani
2. A) Kabul
3. C) Gerhard Schröder
4. A) Karl-Theodor zu Guttenberg
5. D) 2015
6. C) 12 Milliarden Euro